1.
Tränen kamen schon seit einer Weile nicht mehr. Mit trockener Kehle schluchzte Julia in das Kissen auf ihrem Bett. Ihr ganzer Körper tat weh vor Kummer und dem heftigen Wunsch die Zeit zurückzudrehen, nur für ein paar Stunden. Aber sie wusste, dass das unmöglich war.
Manche Dinge sind unwiderruflich. Unfassbar und doch für immer.
Ihr Vater war tot. Ein betrunkener Autofahrer hatte ihn am helllichten Tag auf einer Landstraße überfahren. Seine Verletzungen waren so schwer gewesen, dass sein Herz auf dem Weg ins Krankenhaus aufgehört hatte zu schlagen. Julia und ihre Mutter Hanna waren eben erst von dort zurückgekommen. John hatte ganz friedlich ausgesehen, so, als würde er schlafen. Aber das tat er natürlich nicht. Julia war fünfzehn und kannte den Unterschied zwischen schlafen und tot sein. Der Tod war unwiderruflich.
Nur allmählich drang die Tatsache, dass ihr Vater gestorben war, zu ihr durch. Julia wünschte, auch ihr Herz würde aufhören zu schlagen, damit sie nicht mehr denken musste, nicht mehr fühlen. Alles war ihr zu viel, sogar das Atmen. Doch der Muskel in ihrer Brust schlug kraftvoll weiter, ihrem Wunsch zum Trotz.
Die Vorhänge in ihrem Zimmer waren zugezogen. Der Mai ging zu Ende und draußen schien warm die Sonne. Julia hörte das fröhliche Geschrei der Kinder auf dem Spielplatz hinter dem Haus. Voller Verzweiflung hielt sie sich die Ohren zu. Sie wollte nichts hören, nichts mehr sehen. Schon gar nicht das Licht der Sonne.
Ihr Vater hatte heiße Sommer geliebt, denn er war in der Halbwüste Nevadas aufgewachsen. Und weil nach vielen dunklen Regentagen zum ersten Mal wieder die Sonne schien, war er am Morgen aus der Stadt geflüchtet, um in den kastanienbewachsenen Hügeln wandern zu gehen.
Dort war er nie angekommen.
Irgendwann fehlte Julia die Kraft, sich die Ohren zuzuhalten. Gedämpfte Stimmen drangen aus dem Flur in ihr abgedunkeltes Zimmer. Irgendwer sprach mit ihrer Mutter. Die Tür ging auf, aber Julia wollte nicht wissen, wer hereingekommen war. Sie wollte in Ruhe gelassen werden, sich in den Kokon ihrer Trauer einspinnen.
Jemand setzte sich auf ihr Bett. Eine Hand strich tröstend über ihre Schultern, ihren Kopf. Julia spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte. Sie wollte nicht berührt werden. Sie rutschte zur Seite und setzte sich auf, das Kissen wie ein Schutzschild vor ihrem Körper. Ihre Großmutter war gekommen, Hannas Mutter.
»Julia«, sagte sie, »es tut mir so leid.«
Julia mochte ihre Großmutter, aber die hatte ihren Vater nicht gemocht.
»Warum musste es ausgerechnet ein Indianer sein, Hanna?«, hatte sie bei jeder Gelegenheit zu ihrer Tochter gesagt. Zum Beispiel, wenn John mal wieder nicht pünktlich nach Hause gekommen war, obwohl Hanna und er zusammen ausgehen wollten. Warum musste es ausgerechnet ein Indianer sein?
Julias Vater John Temoke war vom Volk der Western Shoshone, die in Zentralnevada beheimatet sind. Julia wusste, dass ihr Vater sein Land und sein altes Leben vermisst hatte. John hatte nie geklagt, aber man konnte seine Sehnsucht in den Bildern erkennen, die er gemalt hatte. Und manchmal war diese Sehnsucht auch in seinem Blick gewesen. Ein Blick der oft weit fort schweifte, an einen Ort fern wie der Mond.
Julia hatte gedacht, dass sie keine Tränen mehr hätte, doch ohne Vorwarnung schossen sie in ihre Augen und machten sie blind. Ihr Körper wurde von neuen, rauen Schluchzern geschüttelt. Sie würde ihren Vater nie wieder lachen hören, ihn nie wieder um Rat fragen können, nie wieder mit ihm durch den Wald streifen, nie wieder in seinen Armen Trost finden.
Nie wieder würde jemand sie Vogelmädchen nennen.
Dieses Nie wieder beherrschte Julia vollkommen. Bis dahin hatte sie nicht gewusst, was Verlust eigentlich bedeuten konnte.
Nach einer Weile stand die Großmutter kopfschüttelnd auf und verließ das Zimmer, ohne die Tür zu schließen. Julia lauschte einen Moment auf die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Großmutter in der Küche. Dann verließ sie ihr Bett, schlich aus dem Zimmer und ging über den Flur zu der schmalen Treppe, die zur Dachkammer hinaufführte.
Terpentingeruch hüllte sie ein, als sie das kleine Atelier ihres Vaters betrat. Das helle Sonnenlicht, das durch die schrägen Dachfenster fiel, tat ihr in den Augen weh. Sie schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel herum. Niemand sollte sie stören. Julia wollte allein sein mit den Bildern ihres Vaters. Denn hier war er noch da, war ganz wirklich und die zurückliegenden Stunden waren nur ein böser Traum.
An den weißen Wänden der Dachkammer hingen und standen die Gemälde ihres Vaters. Er hatte nie Menschen oder Gesichter gemalt, nur Landschaften, die Landschaften seiner Sehnsucht. Olivgrüne kahle Hügel, Pappeln, dunkelgrün im Sommer und golden im Herbst. Und immer wieder das weiße Ranchhaus mit der blauen Tür und den blauen Fensterrahmen. Er hatte es aus verschiedenen Perspektiven gemalt und in vielen Variationen.
In Julias Vorstellung hatten dieses Haus und seine Umgebung etwas Geheimnisvolles. Es war die Ranch ihrer indianischen Großeltern. Doch weder die Ranch noch ihre indianischen Verwandten hatte Julia jemals kennengelernt.
Ach Pa, dachte sie, warum hast du mich nie mitgenommen?
Diese Frage hatte sie ihrem Vater zuletzt vor drei Jahren gestellt und wie immer eine ausweichende Antwort bekommen. Dass seine Mutter Ada stur sei und weder Hanna noch ihre Enkeltochter sehen wolle. »Es ist meine Schuld, Julia. Eigentlich ist sie auf mich böse.«
Julia war gekränkt gewesen und hatte aus Trotz nicht weiter nachgefragt. Der Vater hatte aufgehört, ihr von der Ranch und seinen Bergen zu erzählen, und Julia hatte versucht, nicht mehr daran zu denken.
Inzwischen hatte sie sich alle Bilder angesehen, nur eines war noch übrig. Zögernd ging sie zur Staffelei, die mit einem Tuch verhängt war. Ihr Vater hatte schon einige Zeit an diesem Bild gearbeitet und ein Geheimnis darum gemacht. Vielleicht hatte es ein Geschenk für sie werden sollen. Mit zitternden Händen zog Julia das Tuch von der Staffelei.
Ein unfertiges Porträt kam darunter zum Vorschein. Schräge Augen mit einem neugierigen Blick. Geschwungene Lippen, die noch keine Farbe bekommen hatten. Das spitze Kinn. Ein dicker Zopf, nur angedeutet. Ihr Vater hatte sie gemalt. Er, der sich mit dem Pinsel nie an Gesichter gewagt hatte.
Julia setzte sich auf den Boden, lehnte den Kopf zurück an die Wand und betrachtete das Bild. Das Wesentliche hatte ihr Vater eingefangen, aber sie fragte sich, ob sie das wirklich war. Hatte er sie so gesehen? Wer war sie überhaupt? Sie fühlte sich genauso unfertig, wie dieses Porträt es war. Ihr Vater hatte sie unfertig zurückgelassen. Was sollte sie jetzt nur tun?
Ihr Blick trübte sich, die Farben des Bildes verschwammen und sie holte tief Luft. Es klopfte an der Tür.
»Julia, bist du da drin?«
Sie antwortete nicht. Ganz langsam glitt sie zur Seite und legte sich auf den Boden. Ich bin nirgendwo, dachte Julia.
Etwas hatte sich ereignet, das spürte Simon sofort. Ada redete kaum während des gemeinsamen Frühstücks. Stumm fütterte sie den Jungen. Auch Boyd sagte kein Wort. Beide schienen über Nacht um Jahre gealtert zu sein.
Tommy schrie. Er biss sich in die Unterarme, bis es blutete, und seine Granny schimpfte deswegen mit ihm. Das tat Ada nur selten. Irgendetwas musste passiert sein. Als Simon am vergangenen Abend das Ranchhaus verlassen hatte, um in seinen Wohnwagen zu gehen, war alles wie immer gewesen. Aber er wusste nur zu gut, dass Dinge sich auch über Nacht ändern konnten.
Simon spürte die Trauer der beiden alten Menschen, die sich wie eine dunkle, schwere Decke über die Ranch gelegt hatte. Dass er keine Ahnung hatte, was los war, verunsicherte ihn. Wie schnell konnte man etwas falsch machen; wie schnell jemanden verletzen, wenn er schon verwundet war. Das hatte er oft genug am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Doch er wagte es nicht, einen der beiden Alten nach dem Grund zu fragen. Er hatte Angst, dass etwas geschehen war, das sein Leben verändern könnte.
Ada kümmerte sich um den Abwasch, wie jeden Vormittag. Simon schraubte den Sauger auf die Flasche für das Kälbchen und begab sich auf den Weg zur Koppel. Pepper, sein junger Mischlingshund, folgte ihm. Simon ließ Pipsqueak trinken und schmuste eine Weile mit dem winzigen Kälbchen. Dann schleppte er vier der schweren Heuballen vom Stapel zum Zaun, kappte die Verschnürung mit einem Messer und verteilte das Heu mit der Heugabel an die Kühe.
Dreizehn Jungtiere waren es. Nur dreizehn. Viel zu wenig, um den Bestand zu erhalten. Draußen auf der umzäunten Weidefläche der Ranch standen noch fünfundsiebzig Kühe – zu wenig, um zwei oder drei davon für Lebensmittel und Benzin zu verkaufen. Zu wenig, um über den nächsten Winter zu kommen.
Die beiden Alten wussten nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Und doch schufteten sie jeden Tag, taten, was getan werden musste, als wäre alles in bester Ordnung. Ada war oft unterwegs. In Städten wie New York, San Francisco oder Washington sprach sie vor den Menschen über die Ungerechtigkeit, die ihrem Volk widerfuhr, seit die Weißen ins Land gekommen waren.
War die alte Frau zu Hause auf der Ranch, kümmerte sie sich um den Jungen, ihren Gemüsegarten, den Haushalt. Simon und Boyd versorgten die Tiere, füllten den Holzvorrat hinter dem Haus auf oder reparierten irgendwelche Fahrzeuge und Maschinen. Fast täglich fuhr der alte Mann mit dem Fourwheeler, einer Art vierrädrigem Motorrad, die Zäune der Ranch ab und besserte Schadstellen aus. Simon half ihm dabei, er mochte diese Arbeit. Sie war nicht schwer und er wusste auch ohne Worte, was zu tun war.
Als Simon an diesem sonnigen Vormittag mit Boyd den Holzzaun flickte, sah er Tränen über die dunklen Wangen des alten Mannes rollen.
Die Tränen machten Boyd blind und er schlug mit dem Hammer ins Leere. Simon zog sich der Magen zusammen, als eine unbestimmte Angst sich in ihm ausbreitete. Er legte Boyd eine Hand auf den Arm. Einen Augenblick verharrten sie so, reglos im Schweigen. Dann wischte sich der alte Mann mit den Hemdsärmeln über das nasse Gesicht, klopfte Simon auf die Schulter und arbeitete weiter.
Es war Abend, bevor Simon endlich erfuhr, was geschehen war. John, der einzige Sohn der beiden, war in Deutschland bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Er hinterließ seine deutsche Frau und eine Tochter. Julia. Im Wohnzimmer des Ranchhauses hing ein Foto von ihr und ihrem Vater. Simon hatte schon oft davorgestanden. Julia war ein pummeliges Mädchen mit einer Zahnspange. Das hatte sie nicht davon abgehalten, dem Fotografen ein strahlendes Lächeln zu schenken.
Simon wusste, dass die beiden Alten noch eine Tochter hatten, die in Alaska lebte. Sie hieß Sarah und war Tommys Mutter. Seit Simon für Ada und Boyd arbeitete, hatte sie sich nicht ein einziges Mal auf der Ranch blicken lassen. Niemand kam, um den beiden Alten zu helfen. Beide Kinder hatten es vorgezogen, diesen Ort so weit wie nur möglich hinter sich zu lassen. Jason, Johns Sohn aus erster Ehe, lebte zwar mit seiner Mutter in Eldora Valley, nur zwanzig Kilometer von der Ranch entfernt, aber sein Interesse an körperlicher Arbeit hielt sich in Grenzen. Lieber fuhr er den ganzen Tag mit seinem aufgemotzten Zweisitzer herum. Auch deshalb war Ada so verbittert. Und nun war der einzige Sohn der beiden, ihre große Hoffnung, tot.
Simon spürte mit seinem ganzen Körper, dass sich etwas verändern würde. Er wusste nicht was, aber es machte ihm Angst.
Die vier Tage bis zur Beerdigung verbrachte Julia in einer Art Dämmerzustand. Geräusche drangen nur gedämpft zu ihr. Die Umgebung kam ihr fremd vor und sie bewegte sich wie in einem Wattenebel.
Julia aß kaum; was sie auch anrührte, es schmeckte nach nichts. Sie sprach nur das Nötigste, denn Worte zu formen, glich einem Kraftakt. Genauso wie Zähne putzen, kämmen und anziehen. Wer sollte jetzt ihren Zopf flechten? Ihr Vater hatte das gern getan, während Hanna der Meinung war, sie sei zu alt dafür und könne es selbst.
Nachts weinte Julia lautlos und schlief am Morgen vor Erschöpfung ein. Ihre Freundin Ella kam und wollte sie ablenken, indem sie einen verrückten Vorschlag nach dem anderen machte. Aber Julia nahm sie gar nicht richtig wahr. Als Ella es ein zweites Mal versuchte, bat Julia ihre Mutter, die Freundin wegzuschicken. Sie wollte nicht, dass jemand sie so sah, nicht einmal Ella. Sie fühlte sich wund und dunkel und müde. Ohne Haut.
Die Beerdigung ihres Vaters erlebte Julia wie hinter Glas. Als ob das alles nichts mit ihr zu tun hätte. Als ob nicht John Temoke in die Erde versenkt würde, sondern irgendein Fremder.
So vieles war mit ihrem Vater gestorben. Ihr Mut, ihre Zuversicht und ein Teil ihres Selbstvertrauens, das er ihr mit seiner Liebe geschenkt hatte. Ihre Unbeschwertheit und die Möglichkeit sich jemandem anzuvertrauen, der so war wie sie. Nun hatte sie keine Chance mehr, von ihrem Vater etwas über die indianische Hälfte in ihr zu erfahren. Sie hatte nicht nur ihn verloren, sondern auch einen Teil von sich.
Am Tag nach der Beerdigung rief ihre Mutter sie zu sich ins Wohnzimmer. Hanna saß auf der Couch, das Gesicht rot und verquollen. In den Händen zerknüllte sie ein Taschentuch.
Seit dem Tod des Vaters fühlte Julia sich außerstande, ihre Mutter zu umarmen. Wenn die Eltern sich gestritten hatten, dann meist deshalb, weil Hanna etwas an John auszusetzen hatte. Er dagegen hatte ihr nie Vorwürfe gemacht oder sie gebeten, ihm zuliebe eine andere zu werden. Julia war oft darüber erstaunt gewesen, wie ihr Vater ihre Mutter ertragen konnte.
Seit dem Unfall hatte jeder auf seine Weise versucht, mit dem Schmerz fertig zu werden. Hanna hatte Julia in Ruhe gelassen, darüber war sie froh gewesen.
Sie setzte sich ans andere Ende der Couch, weit genug weg von ihrer Mutter, und betrachtete sie. Hanna war klein und zierlich, aber immer voller Energie und Selbstbewusstsein gewesen. All die Jahre hatte sie hart gearbeitet und die Familie ernährt, während John zu Hause geblieben war, Bilder gemalt und sich um Julia gekümmert hatte. Jetzt sah Hanna blass und zerbrechlich aus. Für einen Augenblick spürte Julia Mitleid mit ihrer Mutter, das bisher in ihrem dunklen Kummer keinen Platz gefunden hatte.
»Ich habe mit deinen Großeltern in Nevada gesprochen«, sagte Hanna. »Sie wollen dich kennenlernen.«
Julia starrte auf den Teppich. Hannas Worte drangen nur langsam zu ihrem Verstand vor. Sie wollen dich kennenlernen. Ihre indianischen Großeltern wollten sie sehen. Jetzt, wo ihr einziger Sohn tot war. Dabei hatten sie jahrelang nichts von ihr wissen wollen!
John war alle zwei Jahre nach Nevada geflogen, um seine Kinder aus erster Ehe und seine Eltern zu besuchen. Hanna und Julia hatte er nie mitgenommen, sie wären auf der Ranch nicht willkommen gewesen.
Jedes Mal hatte es nach seiner Rückkehr ein wenig länger gedauert, bis er nicht mehr traurig und niedergeschlagen war. In den letzten drei Jahren hatte ihr Vater kaum noch von seinem Zuhause und seinen Eltern gesprochen, obwohl Julia wusste, wie sehr er beides vermisste.
»In zwei Wochen findet das Sommertreffen der Shoshoni in den Bergen statt und deine Großmutter hat uns dazu eingeladen«, sagte Hanna. »Es soll eine Abschiedszeremonie für deinen Vater geben.« Sie holte tief Luft. »Wenn du es möchtest, fliegen wir.«
Julia war so durcheinander, dass sie nicht wusste, was sie wollte. Nevada war immer ihr Traum gewesen. Sie hatte mit ihrem Vater dorthin fliegen wollen, damit er ihr alles zeigte. Was sollte sie jetzt dort – ohne ihn?
Julia kannte nur Fotos von ihren Großeltern und einige alte Zeitungsausschnitte, die John ihr gezeigt hatte. Sie wusste, dass Ada und Boyd Temoke unablässig für die Rechte der Ureinwohner kämpften. In einem der Zeitungsartikel bezeichnete der Journalist die beiden Alten als das Rückgrat des Widerstandes gegen den Landraub und gegen Atomtests und Goldabbau auf Western-Shoshone-Land.
Julia hob den Kopf und sah ihre Mutter an. »Kann ich darüber nachdenken?«
»Sicher kannst du das. Aber nicht zu lange, ich muss den Flug buchen.«
»Ich sage dir morgen Bescheid, okay?« Julia stand auf, um das Wohnzimmer zu verlassen. Doch an der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Warum wolltest du damals eigentlich unbedingt nach Deutschland zurück? Wieso bist du nicht mit Pa auf der Ranch geblieben?«
Hanna sah ihre Tochter traurig an. »Warum ich nicht bleiben wollte? Ach Julia, du weißt so wenig, du kannst dir das alles gar nicht vorstellen. Die Ranch . . .«, sie stockte. »Anfangs war es nicht so schwer zu ertragen. Ich war in deinen Vater verliebt. Sehr verliebt. Und ich habe tatsächlich geglaubt, man könnte sich an alles gewöhnen, wenn man es nur will.«
»Aber es hat nicht funktioniert.«
»Nein. Du kennst die Ranch nicht. Diese Einsamkeit. Der Müll überall, die Armut. Es gibt noch nicht mal warmes Wasser.«
Julia zog die Mundwinkel nach unten. »Das sind doch alles bloß Äußerlichkeiten.«
»Äußerlichkeiten? Du hast ja keine Ahnung. Kein normaler Mensch kann es da aushalten.«
»Sie tun es. Meine Großeltern leben dort. Und Pa hat es auch dort ausgehalten, bis er dich kennenlernte.«
»Mein Gott Julia! Warum verachtest du mich so sehr dafür, dass ich dich nicht in einer Blechkiste aufwachsen sehen wollte?«
Weil Pa dann vielleicht noch leben würde, dachte Julia.
»Wie komme ich eigentlich dazu, mich vor dir rechtfertigen zu müssen?« Es sah so aus, als wollte Hanna aufspringen, doch dann sackte sie wieder in sich zusammen. »Ich konnte einfach nicht bleiben«, flüsterte sie.
Julia sah ihre Mutter schweigend an.
»Glaub mir, es waren nicht nur der Müll und diese Primitivität dort draußen, die mir zu schaffen gemacht haben. Es war viel mehr.« Hanna rieb sich das Gesicht mit den Händen, als hätte sie Schmerzen. »Ich habe furchtbar unter der Ablehnung deiner Großmutter gelitten. Ada ist voller Bitterkeit und Groll. Sie ist der Überzeugung, alle Weißen wären Außerirdische. Sie meint, irgendwann vor langer Zeit wären unsere Vorfahren von einem anderen Planeten auf die Erde gekommen und dort vergessen worden. Deshalb würden wir auch keine Verantwortung für Mutter Erde empfinden. Weil sie nicht unsere wahre Heimat ist. An Adas Einstellung hat sich bis heute nichts geändert und ich fürchte, sie ist nicht besonders glücklich darüber, mich wiederzusehen.«
Julia machte ein paar Schritte auf ihre Mutter zu. »Aber um dich geht es hier doch gar nicht.«
Hanna blickte auf. »Ich habe Angst, Julia.«
»Angst wovor? Vor zwei alten Leuten?«
»Vor dem Krieg, den sie führen.«
»Welchen Krieg?«, fragte Julia mit gerunzelter Stirn.
Ihre Mutter stand auf und ging zum Fenster. »Du weißt, wie engagiert deine Großeltern sind. Sie setzen sich für den Umweltschutz ein, sie demonstrieren gegen die Goldmine auf dem Land der Shoshoni, gegen Waffentests.« Sie drehte sich um. »Aber dein Vater hat dir nie erzählt, was das in Wahrheit bedeutet, oder?«
Julia schüttelte stumm den Kopf.
Ihre Mutter begann im Zimmer auf und ab zu laufen. »Er hat dir die alten Geschichten über sein Volk erzählt; über die Schönheit des Landes und die Bedeutung der traditionellen Bräuche. Und bestimmt hat er dir auch von den alten Verträgen erzählt, in denen die Shoshoni der US-Regierung die Nutzungsrechte ihres Landes eingeräumt haben. Aber dass die US-Regierung diesen Vertrag gebrochen hat und was diese Tatsache heute bedeutet, darüber weißt du nichts.« Hanna machte eine resignierte Geste. »Deine Großeltern weigern sich, Weidegebühren zu zahlen, weil dieses Land nach dem Vertrag von Ruby Valley immer noch Western-Shoshone-Land ist. Also erscheinen alle paar Jahre Vertreter des Bureau of Land Management mit LKWs und Hubschraubern auf der Ranch. Eskortiert von Sheriffs und der Bundespolizei fangen sie Pferde und Rinder ein, die zur Ranch deiner Großeltern gehören. Ohne Rücksicht auf Verluste jagt das BLM die Tiere, fängt sie ein und versteigert sie. Das Geld wird einbehalten.«
»Aber das ist Diebstahl«, sagte Julia aufgebracht. »Du hast gesagt, die Tiere gehören zur Ranch.«
Hanna hob die Schultern. »Zur Schuldentilgung, behauptet das BLM. Deine Großeltern haben Schulden, Julia. Nicht gezahlte Weidegebühren für mehr als dreißig Jahre, weil die Tiere angeblich unberechtigt auf Staatsland weiden. Benzinkosten für Hubschrauber, Behördenfahrzeuge, Arbeitslohn für die Männer, die das Vieh eintreiben . . . Ich glaube, inzwischen sind es fünf Millionen Dollar.«
Fünf Millionen Dollar. »Aber . . .?« Julia schwieg erschüttert.
»Warum dein Vater dir das nie erzählt hat? Er wollte nicht, dass du ihn für jemanden hältst, der seine Familie im Stich lässt. Deinen Großeltern steht das Wasser bis zum Hals, Julia. Sie schaffen es nicht mehr alleine, die Ranch zu bewirtschaften. Die Familie ist zerstritten und deine Großmutter misstraut jedem Fremden, der Hilfe anbietet. Ada und Boyd hatten gehofft, dein Vater würde eines Tages die Ranch übernehmen, stattdessen ist er mit mir fortgegangen. Während sie um ihre Existenz kämpften, hat er Landschaftsbilder gemalt. In ihren Augen war dein Vater ein Versager.«
Julia sah weg. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.
Warum hatte ihr Vater ihr all diese Dinge verschwiegen? Warum war er nicht hier, um ihre Fragen zu beantworten?
»Er war ein Versager, weil er sich entschieden hatte, mit uns in Deutschland zu leben?«, flüsterte sie schließlich.
Hanna gab keine Antwort, sie weinte lautlos.
Julia spürte, wie ihr schwindelig wurde. Sie atmete heftig, um die Übelkeit zu vertreiben, die dunklen Wellen aus Trauer, Angst und Enttäuschung.
Tief verletzt und verwirrt stand sie auf, um aus diesem Raum zu fliehen, der ihr die Luft zum Atmen nahm.
»Julia?«
Sie blieb in der Tür stehen, wandte sich um und sah ihre Mutter fragend an.
»Auch wenn du mir das jetzt vielleicht nicht glaubst«, sagte Hanna. »Aber ich habe deinen Vater sehr lieb gehabt.«